Umkämpfte Grenzen: Wir und die Anderen

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in Beitrag von Anne Dölemeyer, Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung, im Powision-Magazin Vol. 6 “Räume und Grenzen”

 

Gefahr

Im Film Panic in the Streets aus dem Jahr 1950 wird ein osteuropäischer illegaler Einwanderer im New Orleans jener Zeit Opfer eines skrupellosen Mordes. Ein junger Arzt im Dienst des National Health Service, der vom obduzierenden Pathologen hinzugezogen wird, erkennt sofort die von dem Mordopfer ausgehende Gefahr: der Tote trägt den Erreger der Lungenpest in sich und wäre so oder so in wenigen Tagen gestorben.

Auf jeden Fall aber stellte er schon zu Lebzeiten eine äußerlich nicht erkennbare Gefährdung für seine Umwelt dar. Es beginnt eine fieberhafte Suche, um alle aufzuspüren, die mit dem Toten in den vorhergehenden Tagen in Kontakt gewesen sind, diese zu isolieren bzw. zu behandeln, und so das Ausbrechen einer Pestepidemie zu verhindern. Die Tatsache, dass der Tote unbemerkt eingereist war und aus einem fremden Land kam, verweist auf die Bedeutung staatlicher Migrationskontrolle.

Der zeitliche und örtliche Abstand sowie der fantastische Stoff lassen die Darstellung der Ereignisse in Panic in the Streets abenteuerlich erscheinen. Ganz ähnliche Topoi in aktuellen Debatten zur Migration in Deutschland wirken dagegen für viele Menschen recht plausibel: eine unkalkulierbare Bedrohung, die vom Eindringen Fremder ausgeht, die Gefahr staatlichen Kontrollverlusts durch illegale Einwanderung, eine Bedrohung für das Sozial- und Gesundheitssystem, oder die allzu selbstbewusste Verbreitung von MigrantInnen im gesellschaftlichen Raum. Den staatlichen Kräften bleibt in dieser Sichtweise nur die Reaktion, die Verteidigung der (europäischen) Gemeinschaft vor den „Fluten der armen Fremden“. In der dazu komplementären Sichtweise sind die MigrantInnen Opfer staatlicher Gewalt, der sie sich unterordnen müssen. Ein Großteil der aktuellen Debatten läuft entlang dieser Fluchtlinien: einerseits die Frage der Kontrolle und Eindämmung ungewollter Einwanderung, andererseits die Diskussionen um Integration der in Deutschland lebenden MigrantInnen und ihrer Familien. Intuitiv klar zu sein scheint dabei immer, wer „wir“ sind und wer „die Anderen“, was das „Innen“ und das „Außen“ ausmacht.

In diesen Auseinandersetzungen bleiben die gängigen Perspektiven gefangen in einem Rahmen, der kaum anderes erlaubt als von festgeschriebenen Rollen und Identitäten von „Staat“ und „Migration“, von „Deutschen“ und „MigrantInnen“ auszugehen. Diese epistemologische Brille lässt nur bestimmte Gruppen als MigrantInnen und bestimmte Phänomene als Teil von Migration sichtbar werden und belegt diese mit einer spezifischen Vorstellung von „Integration“. In der veröffentlichten Meinung werden so – ob gewollt oder nicht – mit den immer gleichen Regeln der Problemerfassung und -stellung auch die Identitätszuschreibungen in kaum hinterfragbarer Weise reproduziert. Der politischen Dimension dieser Perspektive lässt sich (auch analytisch) kaum näher kommen, wenn man diese Ein- und Zuschreibungen als faktisch Geltende übernimmt.

Wer dieser Falle entkommen will, muss andere Fragen stellen. Vielleicht ist es aufschlussreicher, das Augenmerk auf die Prozesse der Grenzziehung im Kontext von Migration zu richten: Wie, wo und für wen manifestieren sich Grenzen, werden sie bedeutungsvoll und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen? Die Frage wäre also, wie sich Staat und Migration als Felder wechselseitig konstituieren (Karakayalı 2008). Dies bezieht sich sowohl auf Regime der (nationalen) Grenzkontrollen, als auch auf gesellschaftliche Grenzziehungen zwischen „uns Deutschen“ und „den MigrantInnen“. Mit Karakayalı ließe sich formulieren, es gehe um die Untersuchung von Migrationsregimen als „ein Ensemble von Praktiken, in denen historisch-spezifische Bearbeitungsweisen der Migration zur Anwendung kommen“ (Karakayalı 2008: 16).

Im Folgenden werfen wir schlaglichtartig einen Blick auf verschiedene Felder der staatlichen und gesellschaftlichen Bearbeitung von Migration in Deutschland aus der Perspektive der Konstituierung von Grenzen. Wir werfen einige Fragen auf, von deren Bearbeitung wir uns einen alternativen, auch für die Mainstream-Debatten produktiven Blick auf das Feld „Migration“ versprechen, und nutzen dazu die Grenze „als erkenntnisleitende Kategorie“ (Eigmüller 2006: 55).

Staatliche Ordnungen und die Angst vor dem nicht Erfassten

Hinter dem Zwang zur Erfassung und Kontrolle von Einwanderung liegt ein modernes Ordnungsprojekt, das eng mit dem Territorial- und insbesondere mit dem Nationalstaat verbunden ist. Moderne staatliche Ordnung wird hergestellt über ein spezifisches staatliches Wissen von der Bevölkerung, mit der diese geformt und regierbar gemacht wird. Die Logik von modernen Nationalstaaten besteht darin, die als gegeben postulierte Übereinstimmung von Nation, Staatsterritorium, staatlicher Hoheit und Gesellschaft so weit wie möglich herzustellen, indem man „fremde“ Elemente assimiliert oder entfernt (vgl. Bauman 1992). Die Grenzziehung zwischen dem (staats-)territorial definierten „Inneren“, das mit einer nationalen Gesellschaft als deckungsgleich gedacht wird, und dem (ebenfalls territorial gedachten) „Außen“ wird somit zu einem zentralen und dauerhaften Projekt staatlicher Selbstbehauptung (Bauman 2005: 94), Grenzkontrolle zur nicht immer erfolgreichen, aber hochsymbolischen Politik (Eigmüller & Schmidt 2005). In der Konsequenz werden die aus dem „Außen“ Kommenden zu Fremdkörpern, zu den „Anderen“, und dies unabhängig davon, dass diejenigen, die „dazugehören“, bei genauerem Hinsehen gar kein homogene(re)s „Wir“ bilden. Vielmehr entsteht Letzteres im Wechselspiel mit staatlichen und kulturellen Ausschlüssen der „Anderen“.
In der Entwicklungsgeschichte der EU mit der Entstehung stark kontrollierter EU-Außengrenzen und immer selektiver kontrollierter Binnengrenzen zeigen sich die Veränderungen in der Bestimmung von „Innen“ und „Außen“ sehr deutlich. Dies zum Einen in Bezug auf das EU-Innere (die bedeutendere Grenzziehung ist inzwischen die EU-Außengrenze, nicht die Binnengrenzen zwischen einzelnen EU-Ländern), und zum Anderen mit Blick auf die Expansion der EU in den letzten Jahrzehnten, durch die z.B. LettInnen und EstInnen aus Sicht staatlicher und rechtlicher Logik einen extremen rechtlichen Statuswechsel von der Nicht-EU-Ausländerin zur EU-Bürgerin erfuhren. Gleichzeitig unterliegen die entsprechenden „Grenzregime“ und die damit verbundenen Subjektivitäten (MigrantIn, Sans Papiers, EuropäerIn, InländerIn) ständigem Wandel.

Hier stellen sich einerseits Fragen in Bezug darauf, wer aus Sicht staatlicher Grenzregime als „Anderer“ gilt und wer als Teil des „Wir“, und inwieweit sich dies auch in identitären Diskursen wiederfindet. EU-BürgerInnen nehmen z.B. einen anderen Status ein als Nicht-EU-AusländerInnen.

Die Grenzverlagerung ins Subjekt

Darüber hinaus lohnt es sich unter die Lupe zu nehmen, wie und für wen sich diese staatlichen Grenzen manifestieren. Denn Grenzen verändern ihr Gesicht, je nachdem, wer auf sie trifft. Einen besonders interessanten Fall stellen hierbei Grenzkontrollen dar, die nicht an territorial bestimmten Staatsgrenzen oder am Flughafen erfolgen. Gemeint ist die Kontrolle zur Identitätsfeststellung an Bahnhöfen, in Zügen oder in der „Schleierfahndung“ in Grenzregionen. Hier haben die BeamtInnen von Zoll und Bundespolizei kaum Anhaltspunkte dafür, wen sie kontrollieren sollen, und behelfen sich häufig mit phänotypischen Kriterien, die notwendigerweise rassifizieren: Herausgegriffen werden vorrangig Menschen, die „nicht weiß sind“ – was meist meint: die nicht hellhäutig, blond- oder braunhaarig und westeuropäisch gekleidet sind. Interpretiert man den Akt der Dokumentenkontrolle durch Grenzbeamte als Manifestation der nationalstaatlichen oder EU-Grenze, zeigt sich hier, dass die territorialen Grenzen quasi in den menschlichen Körper verlagert werden. Und es zeigen sich die engen Verknüpfungen zwischen nationalstaatlichen Logiken der Grenzziehung und der alltagsweltlichen Bestimmung von „Ausländern“, die nicht nur vom Pass abhängt.

Staatliche Praktiken der Grenzziehungen im Innern

Die Grenzziehungen zwischen dem „Wir“ und dem „Fremden“ sind gerade in behördlichen Praktiken überall anzutreffen; ohne Pass oder Personalausweis, ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ist ein offizielles (und damit: für die Datenerfassung sichtbares) Leben in Deutschland nicht möglich, und der jeweilige Status bestimmt über die Rechte und Pflichten der Einzelnen. Gerade in rechtspraktischer Hinsicht erfolgt eine Bestimmung einer Person, wobei „Ausländerin“ nicht gleich „Ausländerin“ ist. Dies kann man sich als einen ganz handfesten Konstitutionsprozess vorstellen. Wie Scheffer (1995; 2991) für den speziellen Fall des Verfahrens zur Asylgewährung gezeigt hat, werden die Asylbeantragenden von den BehördenmitarbeiterInnen Stück für Stück befragt, um ihre Geschichte als „Fall“ beschreibbar zu machen. In diesem Prozess erhalten die Befragten sukzessive eine bestimmte Subjektposition, als legitimer oder illegitimer Asylbewerber, als geduldete Ausländerin, als Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung, etc. Ähnlich verfestigt sich die Subjektivierung als „AusländerIn“ auch bei anderen Behördenkontakten. Auf diese Weise (re-)produzieren staatliche Erfassungs- und Klassifizierungspraktiken auch identitäre Abgrenzungen, die dann bei der Frage gesellschaftlicher „Integration“ zum Problem werden. Diese Praktiken zu untersuchen und öffentlich sichtbar zu machen, kann helfen, von ethnisierenden Blicken weg zu einer anderen, fruchtbareren Perspektive zu kommen.

Wir und die Anderen

Denn die Trennung in ein deutsches „Wir“ und „die Anderen“ wird zur Brille, durch die Probleme betrachtet werden und eine spezifische Gestalt erhalten, die sich dann verfestigt. Dies, so unsere Vermutung, fördert Ethnisierungen auf allen Seiten (auch in den Selbstbeschreibungen von MigrantInnen). Deutlich wird dies z.B. in den Diskussionen um eine „Deutsche Leitkultur“ und „Parallelgesellschaften“: Beides zielt interessanterweise nicht auf Spannungen zwischen einer Mehrheitsgesellschaft einerseits und gesellschaftlichen Minderheitengruppen aller Art („alternative Milieus“, kosmopolitische Eliten, nationalistische Gruppierungen etc.). Vielmehr geht es immer um eine ethnisch bestimmte Grenzziehung zwischen sichtbaren, häufig räumlich konzentrierten und sozial vernetzten Gruppen von „MigrantInnen“ in erster, zweiter oder dritter Generation, die als solche auch markiert und markierbar sind, und der (als deutsch, weiß, christlich geprägt und demokratisch orientiert gedachten) Mehrheitsgesellschaft. So erhält die Grenzziehung entlang von Nationalitäten besondere Aufmerksamkeit und wird zum Erklärungsfaktor. Statt Fundamentalisierungstendenzen in Teilen der türkischstämmigen Bevölkerung als ein soziales Problem zu begreifen, das in die Gesamtgesellschaft eingebettet und damit in wechselseitigen Dynamiken eng verbunden ist, wird es dank der nationalstaatlichen Brille schnell zum reinen „Migrantenproblem“. Ähnliches ließ sich Anfang 2008 auch in Bezug auf „Ausländerkriminalität“ beobachten, hier noch um einiges polemischer und rassistischer zugespitzt.

Die (polizeiliche und andere) staatliche Datenerhebung, ebenso wie ein Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung, untermauert diese Problemdefinition durchaus, weil ihre Kategorien entlang dieser Grenzziehungen funktionieren.

Genau darin zeigt sich, wie wichtig es ist, Fragen nach der Konstituierung solcher Kategorien zu stellen – nicht nur als intellektuelle Spielerei, sondern als Teil politischer Praxis.

Bibliographie

  • Bauman, 1992: Moderne und Ambivalenz. Hamburg: Junius Verlag.
  • Bauman, Zygmunt 2005: Verworfenes Leben. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
  • Eigmüller, Monika 2006: Der Duale Charakter der Grenze. In: Eigmüller, Monika/ Vobruba, Georg (Hg.): Grenzsoziologie. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Eigmüller, Monika/ Schmidt, Daniel 2005: Grenzsicherungspolitik und Grenzregime, in: Klemens Schrenk (Hg.): Zuwanderung und Integration. Aktuelle Tendenzen und Probleme der Migrationspolitik im Kontext der sächsischen Polizei. Rothenburg/Oberlausitz.
  • Karakayalı, Serhat 2008: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: Transcript Verlag.
  • Scheffer, Thomas 2001: Asylgewährung. Eine ethnographische Verfahrensanalyse. Stuttgart: Lucius & Lucius.
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